MARKTPERSPEKTIVEN
Der Begriff «Perspektive» leitet sich aus dem lateinischen «perspicere» (genau sehen/betrachten, durchschauen) ab und bedeutet gemäss Duden (unter anderem): «Betrachtungsweise von einem bestimmten Standpunkt aus; Aussicht für die Zukunft.» Damit wissen Sie, werte Leserinnen und Leser, was Sie von unserer neuen Anlagepublikation «Marktperspektiven» erwarten dürfen, die Sie hiermit erstmals in den Händen halten oder auf Ihrem Bildschirm sehen: Ein Blick auf und hinter die aktuellen Marktgeschehnisse sowie eine Einschätzung, wie es an den Finanzmärkten weitergeht.
Zum Beispiel in der Geldpolitik. Da spielt sich bis vor kurzem Undenkbares ab. Noch Anfang Jahr ging die Mehrheit der Marktbeobachter davon aus, dass die Europäische Zentralbank (EZB) und in ihrem Fahrwasser die Schweizerische Nationalbank (SNB) nicht an der Zinsschraube drehen werden. Nun ist die SNB Mitte Juni überraschend mit einer Zinserhöhung vorgeprescht. Und es gilt als so gut wie sicher, dass die EZB an ihrer nächsten Sitzung am 21. Juli erstmals seit elf Jahren die Zinsen erhöhen wird. Weitere Zinsanhebungen werden folgen.
Grund für die plötzliche Eile ist die Inflation, die durch die Preisverwerfungen als Folge des Ukraine-Konflikts von bereits hohem Niveau nochmal angezogen hat und nun die Notenbanken vor sich hertreibt. Die Krux dabei: Die Zinserhöhungen nützen bei der Bekämpfung der aktuellen Teuerungsentwicklung nichts! Das mag ein wenig drastisch ausgedrückt sein. Doch der Preisschub ist nicht oder nur zu einem geringen Teil das Resultat einer grossen Nachfrage, er wird primär von der Angebotsseite getrieben: gestörte Lieferketten, Lockdowns in China, Energieknappheit, Ukraine-Konflikt, Sanktionen. Und diese werden durch höhere Zinsen nicht behoben.
Alles vergebene Liebesmüh also? Nein! Denn die Zinsschritte, welche die Währungshüter nun aus dem Hut zaubern – Zinsalabim – sind richtig und wichtig. Die Negativzinsen sind eine Belastung für das System. Sparer und Anleger, Pensionskassen und Lebensversicherer, Banken – viele sind davon betroffen. Dieses Regime zu beenden und eine Normalisierung des Zinsgefüges herbeizuführen, macht Sinn. In der Schweiz hat die SNB den Vorteil, dass sie bei der hohen Importquote von über 50 % (gemessen am Bruttoinlandprodukt) über einen starken Franken die importierte Inflation mit geldpolitischen Mitteln wie Zinsanpassungen oder Währungsinterventionen etwas dämpfen kann. Sie wird eine gewisse Aufwertung des Frankens zulassen, was aufgrund der Inflationsdifferenz zugunsten der Schweiz gut vertret- und verkraftbar ist. Die SNB hat aber auch signalisiert, dass sie nach wie vor gewillt ist, einer zu starken Aufwertung entgegenzutreten. Das ist kein «Zinsalabim», sondern reale Geld- und Währungspolitik.
Thomas Heller
CIO, Belvédère Asset Management
Konjunktur
Zwei grosse Fragen stehen derzeit im Raum: Was passiert mit der Teuerung? Kommt es zu einer Rezession? Die Inflation erweist sich als stärker und hartnäckiger als ursprünglich erwartet. Das zuvor realistische Szenario einer vorübergehenden Teuerung ist mit dem Ukraine-Krieg hinfällig geworden. Der Konflikt hat den Inflations-Zyklus um ein bis zwei Prozentpunkte nach oben gehievt und verlängert. Es drohen Zweitrundeneffekte, welche das Teuerungsniveau (deutlich) über dem Ziel der Notenbanken von 2 % halten. In den USA könnte der Höhepunkt der Inflation jedoch erreicht oder zumindest nahe sein. Einerseits sind die Rohstoffpreise zuletzt kaum gestiegen, andererseits bremst das schwächere Wachstum den Anstieg der Preise. Zudem beginnen Basiseffekte den Preisauftrieb zu dämpfen. Eine Konjunkturabschwächung ist schon länger zu beobachten. Noch halten sich die Einkaufsmanagerindizes über der Wachstumsschwelle von 50 Punkten (vgl. Abb.). Zuletzt haben vor allem Stimmungsindikatoren (u.a. Ifo-Index Deutschland, Konsumentenvertrauen Eurozone) und vor-laufende Indikatoren (z.B. Leading Indicator USA) nachgegeben. Diese Eintrübung der «weichen» Faktoren wird sich in den «harten» Konjunkturdaten niederschlagen. Stagflation – Wachstumsstillstand bei erhöhter Inflation – ist ein reales Risikoszenario. Mit einer Rezession, also einer Kontraktion der Wirtschaftsleistung, rechnen wir derzeit nicht.
Zinsen
Die US-Notenbank (Fed) hob den Leitzins zuletzt gleich um 0.75 Prozentpunkte an (was sie letztmals 1994 tat), die SNB erhöhte im Juni überraschend die Zinsen noch vor der EZB, die ihrerseits im Juli mit einer Zinserhöhung folgen wird. Die Notenbanken drehen also kräftig an der Zinsschraube. Das Ende ist noch nicht erreicht. Eingepreist sind in den USA nun ein weiterer 0.75 %-Schritt im Juli sowie je 0.5 %-Schritte im September und Anfang November. In der Schweiz scheint im September eine weitere Anhebung auf 0 % oder gar +0.25 % realistisch.
Damit würde das Negativzinsregime in der Schweiz nach fast acht Jahren beendet. Ob vor dem Jahreswechsel dann noch ein weiterer Zinsschritt folgt, hängt stark davon ab, wie sich die Konjunktur und der Franken-Kurs bis dahin entwickeln.
Verdichten sich die Anzeichen einer stärkeren Wachstumsverlangsamung in den kommenden Wochen und Monaten, so ist es denkbar, dass die Notenbanken den Fuss etwas vom geldpolitischen Bremspedal nehmen.
Die steigende Inflation und die restriktivere Geldpolitik haben die gesamte Zinskurve nach oben gedrückt (vgl. Abb.). Der Zinsanstieg führte zu Kursverlusten auf den Obligationen, wobei dies Buchverluste sind und die einzelnen Anleihen – sofern kein Zahlungsausfall vorliegt – zu 100 % zurückbezahlt werden. 10-jährige Eidgenossen zahlen nun wieder rund 1.0 %, die Rendite 10-jähriger US-Treasuries liegt bei etwa 3 % – immerhin! Das könnte den einen oder anderen Anleger wieder anlocken und einen weiteren Zinsanstieg am langen Ende dämpfen.
Aktien
Die meisten Aktienmärkte schlossen auch im zweiten Quartal deutlich im Minus. Steigende Inflation, restriktivere Notenbanken, Lockdowns in China, Lieferkettenprobleme und der Ukraine-Krieg brauten sich zu einem «perfekten Sturm» zusammen. Zeitweise lagen einige Indizes nahe oder unter der -20 %-Marke, der gängigen Definition eines Bärenmarktes. Ein solcher lässt sich jedoch nicht nur an einer absoluten Zahl festmachen, sondern auch am Zeitraum, wenn die Märkte sich über mehrere Quartale nach unten bewegen. So betrachtet sind wir aktuell nicht in einem echten Bärenmarkt, der vergleichbar wäre etwa mit der Finanzkrise oder dem Platzen der Internetblase. Doch nun liegen die Fakten auf dem Tisch. Bleibt die Inflation vorerst hoch? Ja! Geben die Notenbanken energisch Gegensteuer? Ja! Kommt es zu einer spürbaren Wachstumsabschwächung? Ja! Die Marktstimmung ist zwar noch immer schlecht, aber es ist wohl viel Negatives in den Kursen eingepreist. Natürlich sind weitere Rückschläge nicht auszuschliessen und wann eine Erholung einsetzt, ist schwierig zu terminieren. Aber aus heutiger Sicht dürfte der grösste Teil der Korrektur hinter uns liegen. Daher könnte es nun zu einer Stabilisierung kommen.