MARKTPERSPEKTIVEN
Steht der Eurozone eine neue Schuldenkrise bevor? Zumindest in Italien braut sich womöglich etwas zusammen. Der Zinsaufschlag (Risikoprämie) für 10-jährige italienische Staatsanleihen zu ihren deutschen Pendants hat sich deutlich ausgeweitet. Gleichzeitig hat sich das allgemeine Zinsniveau erhöht. Der italienische Staat muss heute mit rund 3% zweieinhalbmal höhere Zinsen zahlen als noch Anfang Jahr (1.20%), ganz zu schweigen von den 0.55% im Sommer 2021. Bei einer Staatsverschuldung von über 150% des BIP, der zweithöchsten in der Währungsunion, und Ausgaben für die Zinszahlungen von 3.5% des BIP im vergangenen Jahr (EU-Höchstwert!) kann man erahnen, wie schmerzhaft der Zinsanstieg für Italien sein wird. Hohe Schulden, steigende Zinsen, hohe Zinszahlungen, begleitet von politischer Instabilität und schwächelnder Konjunktur – ein explosives Gemisch. Die Europäische Zentralbank (EZB) ist alarmiert.
«Whatever it takes», was immer nötig sei, werde die EZB tun, um die Euro-Krise zu bewältigen, versprach der damalige EZB-Präsident Mario Draghi vor genau zehn Jahren. Und er ergänzte: «And believe me, it will be enough», es werde auf jeden Fall genug sein. Diese inzwischen legendären Worte Draghis standen am Beginn der Wende in der Eurokrise. Kurz darauf rief die EZB das Outright Monetary Transactions-Programm (OMT) ins Leben, welches bei Bedarf mit dem Kauf von Staatsanleihen von Ländern in einer akuten Problemlage für geldpolitische Stabilität hätte sorgen sollen. «Hätte» deshalb, weil bereits die Ankündigung des OMT-Programms eine beruhigende Wirkung auf die Märkte hatte. OMT kam nie zum Einsatz.
Die neuste Erfindung aus dem Hause EZB heisst TPI, Transmission Protection Instrument. Die EZB kann unter gewissen Voraussetzungen (unbeschränkt) Staatsanleihen kaufen, «um einer ungerechtfertigten, ungeordneten Marktdynamik entgegenzuwirken», und zwar in Ländern mit einer «Verschlechterung der finanziellen Bedingungen, die nicht durch länderspezifische Merkmale gerechtfertigt sind.» Sie unterstellt damit, dass es zu einer «ungerechtfertigten», also «falschen» Reaktion kommen könnte, dass quasi ein Marktversagen vorliege. Dem ist natürlich nicht so. Der Markt funktioniert einwandfrei. Die heutigen Zinssätze und Risikoprämien sind das Resultat der Einschätzung von Chancen und Risiken durch die Marktakteure. Klar, sie können sich täuschen, ihre Meinung ändern, weniger Risikoprämie verlangen oder mehr. Das ist aber kein Marktversagen, sondern das Ergebnis einer Neubeurteilung. Das ist letztlich Sinn und Zweck des Marktes.
TPI soll nun diesen Marktmechanismus unterdrücken. Dass die EZB erneut einschreiten will, kann nicht überraschen, sondern fusst auf ihrer langjährigen Tradition des (übertriebenen) Eingreifens. «Whatever it takes 2.0» sozusagen. Doch das ist mittlerweile Teil des Problems und nicht der Lösung. Ob, wie vor zehn Jahren, allein die Ankündigung die Märkte zu beschwichtigen vermag? Es könnte sein, dass es diesmal nicht bei Worten bleibt.
Thomas Heller
CIO, Belvédère Asset Management
Konjunktur
Die europäische Konjunktur, vermeintlich von der Ukraine-Krise besonders betroffen, hat sich im zweiten Quartal überraschend positiv entwickelt und gegenüber dem Vorquartal um 0.7% zugelegt (vgl. Abb.). Allerdings haben dazu mit einem starken Lageraufbau, der erhöhten Reisetätigkeit nach Aufhebung der Corona-Massnahmen sowie einer unerwartet regen Investitionstätigkeit mehrere Faktoren beigetragen, die sich so nicht wiederholen werden. Angesichts der nachlassenden Konsumenten- und Unternehmerstimmung sowie der sich anbahnenden Energiekrise droht die Region vielmehr in eine Stagnation oder gar Rezession abzurutschen.
Anders als die Eurozone sind die beiden grössten Volkswirtschaften der Welt – USA und China, die zusammen mehr als ein Drittel der globalen Wirtschaftsleistung erbringen – im zweiten Quartal geschrumpft. Chinas Bruttoinlandprodukt (BIP) ging gegenüber dem ersten Quartal um 2.6% zurück. Das US-BIP war mit -0.2% schon zum zweiten Mal in Folge rückläufig, was gemäss gängiger Definition bereits einer Rezession entspricht. Angesichts des anhaltend starken US-Arbeitsmarkts, der nach wie vor ansprechenden Konsumausgaben sowie der noch immer intakten Lage im Industriesektor fühlt es sich allerdings überhaupt (noch) nicht rezessiv an. Doch auch in den USA geben die Stimmungsindikatoren nach, was sich in den kommenden Monaten in den harten Konjunkturdaten niederschlagen dürfte.
Zinsen
Am 21. Juli hat die Europäische Zentralbank (EZB) erstmals seit elf Jahren die Leitzinsen erhöht. Und zwar gleich um 0.5 Prozentpunkte, was sie seit ihrer Gründung im Jahr 1998 nur zweimal getan hatte (1999 und 2000). Der Refinanzierungssatz, zu dem sich Banken bei der EZB Geld leihen können, liegt neu bei 0.5%. Der Einlagesatz wurde von -0.5% auf 0% erhöht und damit das Negativzinsregime nach über acht Jahren beendet. Endlich, ist man geneigt zu sagen. Mit Ausnahme der Bank of Japan haben alle grösseren Notenbanken schon vor Monaten begonnen, die Zinsen anzuheben. Sogar die Schweizerische Nationalbank war der EZB mit ihrem überraschenden Zinsschritt Mitte Juni zuvorgekommen. Das Ende des Zinszyklus ist indes noch nicht erreicht, bis Ende Jahr werden weitere Leitzinserhöhungen folgen.
Bei den langfristigen Zinsen hätte uns ein weiterer Anstieg von den im Juni erreichten Höchstständen überrascht. Noch mehr überrascht hat allerdings, wie stark sie seither zurückgekommen sind (vgl. Abb.). Dies trotz rekordhoher Inflation und trotz Leitzinserhöhungen – oder vielmehr sogar eher wegen der Zinserhöhungen. Dass die Währungshüter Ernst machen mit der Inflationsbekämpfung und dafür bereit sind, die Konjunktur empfindlich zu dämpfen, hat wohl massgeblich für die rückläufigen Zinsen gesorgt haben. Bewegten sich die langfristigen Zinsen zuvor nach unserer Einschätzung am oberen Ende der Bandbreite, dürfte die Talsohle nach dem deutlichen Rückgang allerdings erreicht sein. Etwas höhere Zinsen scheinen wahrscheinlich, ein Anstieg auf die Jahreshöchststände ist jedoch nicht zu erwarten.
Aktien
Die Aktienkurse haben sich nach dem markanten Rückschlag in der ersten Jahreshälfte zuletzt deutlich erholt. In den Kursen war zuvor viel Negatives eingepreist gewesen und bereits das Ausbleiben neuer schlechter Nachrichten hat zu einer Stabilisierung beigetragen. Für die Erholung sorgten einerseits Andeutungen der US-Notenbank, dass der Zinserhöhungspfad zwar noch nicht zu Ende sei, aber weniger steil ausfallen könnte als zuvor erwartet. Andererseits sind die Halbjahresergebnisse der Unternehmen – nicht nur in den USA – besser ausgefallen als erwartet. Zudem präsentierten die Unternehmen positivere Ausblicke als befürchtet.
Die Luft für eine Fortsetzung der jüngsten Kurserholung ist jedoch bereits wieder dünner geworden. Es bräuchte dazu klare Signale, dass sich einige der kritischen Faktoren (Geopolitik, Konjunktur, Inflation, Geldpolitik) zum Besseren wenden. Es wird eine holprige Fahrt bleiben, doch scheint die Lage momentan einigermassen robust zu sein. Mit einem Rückfall auf oder gar unter die bisherigen Jahrestiefststände rechnen wir derzeit nicht.