MARKTPERSPEKTIVEN
«Diesmal ist es anders.» Wie oft hat man diesen Satz schon gehört? Meist geht es darum, eine aussergewöhnliche, zum Beispiel besonders positive Marktentwicklung trotz Warnsignalen zu begründen. Ein Klassiker ist die Dotcom-Blase um die Jahrtausendwende, als die damals exorbitanten Bewertungen mit der sogenannten New Economy und deren unendlichen Möglichkeiten legitimiert wurden.
Meist ist es aber eben nicht anders. Hohe Bewertungen und eine (zu) euphorische Stimmung sind kein Grund für noch höhere Kurse. Anhaltende geopolitische Unsicherheiten, welche die Wirtschafts- und Finanzzentren tangieren, beflügeln die Aktienmärkte nicht. Rasch steigende langfristige Zinsen sind nicht gut für die Aktienkurse, insbesondere wenn nicht ein wirtschaftlicher Aufschwung, sondern eine ausufernde Inflation dahintersteckt. Restriktivere Notenbanken, welche die Leitzinsen anheben und Liquidität abschöpfen, belasten die Märkte. Eine absehbare Konjunkturschwäche mit schlechten Unternehmensergebnissen ebenso. Im Einzelfall mag das nicht gelten, in der Regel aber eben schon. Das lässt sich dieses Jahr bestens beobachten.
Und doch ist es dieses Mal tatsächlich anders als sonst. Und zwar aus zwei Gründen. Zum einen passieren die aufgezählten Ereignisse seit einigen Monaten alle gleichzeitig. Das ist per se schon aussergewöhnlich. Zum anderen kann man für einmal nicht auf die Notenbanken zählen. Ich bin seit bald 30 Jahren am Markt und kann mich nicht erinnern, dass die Währungshüter den Märkten in einer Phase, wie wir sie derzeit erleben, nicht beigestanden wären. Das soll kein Aufruf an die Notenbanken sein, die Geldschleusen wieder zu öffnen. Denn der sogenannte «Notenbank-Put», also die Gewissheit, dass die Währungshüter im Fall der Fälle rasch und unter Umständen sogar vorbeugend eingreifen würden, ist ein Teil des heutigen Problems. Dass sie derzeit nicht eingreifen (können), ist dennoch bemerkenswert.
Wie geht es weiter? Die Aktienmärkte können aktuell weder von der Konjunktur noch von der Zinsfront oder der Geopolitik Unterstützung erwarten. Das ist zwar in den Kursen mehrheitlich enthalten. Aber es fehlt derzeit ein Auslöser für eine nachhaltige Erholung. Und die bevorstehende Berichtssaison könnte nochmals zu einem echten Test werden (vgl. Aktienkommentar). Immerhin – und das mag sonderbar klingen – ist die Stimmung an den Aktienmärkten sehr schlecht. Das könnte bedeuten, dass wer verkaufen wollte, verkauft hat und damit der Abgabedruck nachlässt. Oder vielleicht wird es auch dieses Mal so sein wie immer: Wenn‘s wirklich brennt, eilen die Notenbanken herbei, wie es die Bank of England jüngst bereits vorgemacht hat (diesmal allerdings wohl aus gutem Grund). Und das kürzlich vorgestellte Transmission Protection Instrument (TPI) der Europäischen Zentralbank (EZB) steht bereit. Man darf gespannt sein.
Thomas Heller
CIO, Belvédère Asset Management
Konjunktur
Die US-Wirtschaft hält sich nach wie vor relativ gut. Der Einkaufsmanager-Index (PMI) der Industrie steht auch im September über der Wachstumsschwelle von 50 Punkten und der Privatkonsum stieg im August leicht an. Robust blieb zudem die Investitionstätigkeit der Unternehmen. Die höheren Zinsen hinterlassen jedoch erste Bremsspuren im zyklischen Bausektor. Je mehr die US-Notenbank (Fed) an der Zinsschraube dreht, desto grösser die Gefahr, dass weitere Bereiche der Wirtschaft negativ tangiert werden. Die Fed hat für weitere Zinserhöhungen allen Grund, denn die Inflation hat sich im August unerwartet beschleunigt (Kernrate 0.6%, nach 0.3% im Vormonat). Noch sehen wir keine Rezession in den USA, aber die Risiken haben sich klar erhöht.
Die Wirtschaft der Eurozone profitierte bis vor kurzem noch von Nachholeffekten (Dienstleistungen, Reisen). Diese positiven Effekte haben zusehends nachgelassen. Dazu kommt die weiter steigende Inflation (10.0% im September), die an der Kaufkraft der Konsumenten nagt. Die Industrie leidet immer noch unter Kapazitätsengpässen und vor allem unter höheren Energiepreisen. Der entsprechende PMI notiert bereits den zweiten Monat in Folge unter 50 Punkten. Die Eurozone steuert auf eine Rezession zu. Offen sind lediglich Dauer und Ausmass des Abschwungs, was letztlich auch von der Verfügbarkeit der Energie abhängt.
Aktien
Die Aktienmärkte starteten zuversichtlich in den September, wurden jedoch von einer deutlich höher als erwarteten US-Inflation jäh auf den Boden der Realität zurückgeholt. Über den Monat verloren die Indizes 6% bis 10%, wobei Wachstumswerte am meisten unter die Räder kamen. Mittlerweile dürfte aber viel Negatives (z.B. schlechte Konjunktur, Eskalation im Ukraine-Konflikt) in den Kursen eingepreist sein. Zudem ist die Stimmung unter den Investoren stark eingetrübt. So liegt der Anteil der optimistischen Anleger in den USA gemäss Umfragen noch bei lediglich 20%, ein ausgesprochen tiefer Wert. Es ist somit durchaus möglich, dass es nach den hohen Kursverlusten zu einer Gegenreaktion kommt.
Die anstehende Berichtssaison könnte allerdings das Bild schnell wieder eintrüben. Zwar haben die Analysten ihre Gewinnschätzungen für den S&P500 für das dritte Quartal bereits um über 6% reduziert, angesichts der schlechten Konjunktur dürften die Ausblicke der Firmen allerdings kaum rosig ausfallen. Ein Beispiel ist Nike: Der amerikanische Sportartikelhersteller leidet unter hohen Lagerbeständen und der Zurückhaltung der Konsumenten, worauf die Aktie über 12% korrigierte. Ein weiterer Bremsklotz für die Aktienmärkte sind die Zinsen. Erstmals seit langem haben Investoren wieder eine echte Alternative zu Aktien.
Zinsen
Die ungewöhnlich grossen Ausschläge bei den Kapitalmarktrenditen halten an. Der seit Mitte August zu beobachtende Zinsanstieg hat sich im September nahtlos fortgesetzt und in den USA und Europa wurden die Höchststände vom Juni (entgegen unseren Erwartungen) übertroffen. In der Schweiz bewegten sich die Zinsen im erwarteten Rahmen. Gründe für den starken Anstieg der US-Zinsen waren die überraschend hohe Inflation und die Entschlossenheit der Fed, so viele Zinserhöhungen wie zur Preisstabilität nötig sind durchzuziehen.
Einen noch stärkeren Zinsanstieg erfuhren britische Anleihen, nachdem die neue Regierung unter Liz Truss Steuersenkungen ankündigte. Der Obligationenmarkt geriet derart aus den Fugen, dass die Bank of England mit unlimitierten Käufen das lange Ende der Zinskurve stabilisieren musste. Diese Aktion führte dann auch zu einer Entspannung in den anderen Zinsmärkten. Kurzfristig dürfte das Schlimmste überstanden sein, ob nochmals mit neuen Höchstständen zu rechnen ist, hängt im Wesentlichen vom weiteren Verlauf der Inflation ab. Wir gehen davon aus, dass die Fed die Zinsen an ihren nächsten beiden Sitzungen nochmals um 75 beziehungsweise 50 Basispunkte erhöhen wird. Auch die EZB und die Schweizerische Nationalbank werden angesichts der höheren Inflation nicht um weitere Zinserhöhungen herumkommen.