MARKTPERSPEKTIVEN
Zugegeben, der Titel ist bewusst provokativ gewählt. Vermutlich wundern Sie sich darüber, denn in den vergangenen Wochen und Monaten hat man Sie medial eher vom Gegenteil zu überzeugen versucht. Aufhänger war dabei oft die deutsche Handelsbilanz, die im Mai 2022 erstmals seit 30 Jahren ins Negative rutschte, Deutschland also wertmässig mehr Güter importierte als exportierte. Vom Niedergang des Exportweltmeisters war da etwa die Rede.
Wie ist dieses Handelsbilanzdefizit Deutschlands einzuordnen? Zunächst ist der Aussenhandel bzw. die Handelsbilanz ein Nullsummenspiel. Jedem Exportüberschuss steht irgendwo ein Importüberschuss gegenüber. Ein Handelsbilanzdefizit ist nicht per se gut oder schlecht. Relevant ist, wenn schon die Handelsaktivität insgesamt. Und in absoluten Zahlen waren die deutschen Exporte und Importe zuletzt so hoch wie noch nie. Einschränkend muss man indes erwähnen, dass es sich um nominelle Werte handelt, was angesichts der Inflation insbesondere die Importe «aufgebläht» hat. Ausserdem sind die Importe von heute die Investitionen und der Konsum im Inland von morgen. Das heisst die Importe fliessen mit einem negativen Vorzeichen in die BIP-Berechnung ein, tauchen in anderen BIP-Komponenten aber als positive Werte wieder auf.
Weiter «weltmeisterlich» unterwegs ist Deutschland, wenn man die Leistungsbilanz heranzieht, die neben dem Handel mit Gütern auch grenzüberschreitende Dienstleistungen umfasst. Der Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands ist mit 7 % des Bruttoinlandprodukts trotz leichten Rückgangs immer noch ausserordentlich hoch (Rang 1 unter den G20-Staaten). Dieser wurde und wird von vielen Ländern — besonders lautstark von den USA unter Donald Trump — als viel zu hoch kritisiert. Deutschland investiere und konsumiere zu wenig bzw. spare zu viel. Ich habe mich unter dem Titel «Ist Deutschland zu erfolgreich?» vor einigen Jahren schon einmal für unseren nördlichen Nachbarn stark gemacht. Deutschland seine wirtschaftliche Stärke anzulasten, so die Argumentation, schiesse am Ziel vorbei. Es sei, wie wenn man Roger Federer bitten würde, die anderen auch mal gewinnen zu lassen.
Zurück zum Titel dieses Beitrags: Deutschland boomt natürlich nicht. Die Wirtschaft schwächt sich — wie im Rest der Welt — ab. Die teilweise in die Jahre gekommene Infrastruktur, missglückte Grossprojekte wie der Berliner Flughafen, die drohende Energieknappheit, die Deutschland besonders stark treffen würde, oder die notorischen Verspätungen der Deutschen Bahn verstärken den Eindruck des Abstiegs. Diesen kann man aber nicht an den jüngsten Zahlen zur Handelsbilanz festmachen. Im Gegenteil: Sucht man nach Positivem, wird man im deutschen Aussenhandel fündig. Übrigens: Die Werte zur Handelsbilanz im Mai wurden nachträglich nach oben revidiert — zu einem Überschuss!
Thomas Heller
CIO, Belvédère Asset Management
Konjunktur
Im Juli hat die US-Inflation erstmals seit langer Zeit positiv überrascht. Anstatt der erwarteten 8.7 % fiel sie auf 8.5 % von zuvor 9.1 %. Fast noch wichtiger: Die Kern-Inflation ist nicht wie erwartet gestiegen, sondern verharrte bei 5.9 %. Der Höhepunkt in der US-Inflation dürfte damit endlich überschritten sein. Dennoch: Die Teuerung bleibt in den USA erhöht. In der Eurozone und in Grossbritannien notiert sie auf Höchstwerten und könnte sogar noch etwas steigen. Und selbst in traditionellen Tief-Inflationsländern wie Japan oder der Schweiz hat die Teuerung angezogen (vgl. Abb.).
Die US-Konjunktur hält sich nach wie vor erstaunlich gut. Der Arbeitsmarkt ist immer noch sehr stark und zuletzt haben sogar Stimmungsindikatoren (z.B. Konsumentenstimmung) positiv überrascht. Problematisch werden könnte die sich ungewohnt stark öffnende Schere zwischen der Produktivität (–3 % in der ersten Jahreshälfte) und den Lohnstückkosten (+5.7 %). In der Eurozone stehen die Zeichen weiter auf Abschwung. Noch widerspiegelt sich das hauptsächlich in Vorlauf- und Stimmungsindikatoren. Es ist aber nur eine Frage der Zeit, bis sich das auch in den harten Wirtschaftsdaten niederschlagen wird.
Fazit: Die Konjunktur hält sich bislang besser als befürchtet, mit einer Verbesserung ist jedoch vorerst nicht zu rechnen. Die Gefahr einer spürbaren Wachstumsdelle bleibt. Aufgrund des aktuellen Datenkranzes rechnen wir derzeit zumindest in den USA nicht mit einer Rezession, für die Eurozone ist die Ausgangslage hingegen weniger klar.
Zinsen
Die steigende Inflation, die restriktiveren Notenbanken, die Lockdowns in China, Lieferkettenprobleme und der Ukraine-Krieg hatten sich in der ersten Jahreshälfte zu einem «perfekten Sturm» zusammengebraut und die Aktienmärkte deutlich ins Minus gedrückt. Zeitweise lagen die Indizes 20% und mehr im Minus. Um die Jahresmitte war dann allerdings sehr viel Negatives in den Kursen eingepreist und eine Erholung war absehbar (vgl. Marktperspektiven vom Juli 2022). Wie lange und wie stark sie ausfiel, hat dann aber doch überrascht.
Derzeit herrschen andere Vorzeichen: War in den Kursen im Juni viel Negatives enthalten, hat sich das Bild nach der zweimonatigen Erholung verändert. In den Kursen war/ist nichts Negatives mehr eingepreist — keine mögliche Rezession, keine Verschärfung der geopolitischen Spannungen, keine geldpolitische Straffung. Die negative Reaktion der Märkte auf die Absage von US-Notenbankchef Jerome Powell an eine weniger straffe Zinspolitik verdeutlicht, dass sie vulnerabler geworden sind. Es fehlt momentan der Auslöser für die nächste Kursbewegung nach oben. Den Aktienmärkten ist die Puste etwas ausgegangen. Allerdings rechnen wir auch nicht mit einer Fortsetzung des Abwärtstrends der letzten zwei Wochen.
Aktien
Die Aktienkurse haben sich nach dem markanten Rückschlag in der ersten Jahreshälfte zuletzt deutlich erholt. In den Kursen war zuvor viel Negatives eingepreist gewesen und bereits das Ausbleiben neuer schlechter Nachrichten hat zu einer Stabilisierung beigetragen. Für die Erholung sorgten einerseits Andeutungen der US-Notenbank, dass der Zinserhöhungspfad zwar noch nicht zu Ende sei, aber weniger steil ausfallen könnte als zuvor erwartet. Andererseits sind die Halbjahresergebnisse der Unternehmen – nicht nur in den USA – besser ausgefallen als erwartet. Zudem präsentierten die Unternehmen positivere Ausblicke als befürchtet.
Die Luft für eine Fortsetzung der jüngsten Kurserholung ist jedoch bereits wieder dünner geworden. Es bräuchte dazu klare Signale, dass sich einige der kritischen Faktoren (Geopolitik, Konjunktur, Inflation, Geldpolitik) zum Besseren wenden. Es wird eine holprige Fahrt bleiben, doch scheint die Lage momentan einigermassen robust zu sein. Mit einem Rückfall auf oder gar unter die bisherigen Jahrestiefststände rechnen wir derzeit nicht.